Fernando Pessoa

Über das Buch der Unruhe

Wer sind wir in unseren Träumen? Was macht das Leben aus uns? Das sind zeitlose Fragen – überall. Aber ich kenne niemanden, der die Geheimnisse und Notwendigkeiten unseres individuellen Lebens so in Worte fassen kann wie Pessoa. Sein Buch der Unruhe ist für mich eine literarisch-philosophische Quelle, ein Lebens- und Arbeitsbuch.
Andreas Seemer-Koeper

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Wie kann man das Buch der Unruhe in Verbindung sehen zur Arbeit eines Komponisten und es gleichzeitig unabhängig davon neu öffnen für alle, die es noch nicht kennen?

Einfach durchlesen kann dieses Buch wohl niemand. Es ist ein schillerndes und dunkles Kaleidoskop aus Fragmenten, die brechen, sich widersprechen und in neuen Konstellationen zusammenfinden. So wie es uns erscheint, so wollen wir es widergeben – als eine Collage aus Fragmenten, Lesarten, Sichtweisen, Zitaten über das Buch der Unruhe und seinen Dichter.

Hier ein Lyriker und Leser, der ein komplexes Werk in klare Worte fasst, ohne ihm die Unergründlichkeit und uns die Neugierde zu nehmen. (pw)

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Joachim Sartorius über „Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“:

„Bernardo Soares ist Hilfsbuchhalter in der Unterstadt von Lissabon. Er arbeitet in der Firma Vasques & Co. in der Rua dos Douradores. Er liebt seine Geschäftsbücher, sein Stehpult, sie sind der Wall gegen eine schwer durchschaubare Welt. Abends, in seiner Wohnung, nach einer Runde durch Kaffeehäuser und Bars (…) macht er Notizen in ein anderes Buch „das Buch der Unruhe“, Hunderte von Eintragungen, die über das vergebliche Leben reflektieren. Fernando Pessoa kennt Bernardo Soares. Im Vorwort zum „Buch der Unruhe“ beschreibt er, wie er Soares kennenlernte und warum er nun dessen Buch herausgibt. (…)

Auch Pessoa, der bedeutendste portugiesische Dichter der Moderne (1888 bis 1935), arbeitete in der Unterstadt, in der Firma Moitinho de Almeida, allerdings nicht als Buchhalter, sondern als Übersetzer, gelegentlich auch als Werbetexter und für kurze Zeit als Herausgeber einer Zeitschrift „für Handel und Buchhaltung“. Wenn er nicht trank, schrieb er Gedichte und poetische Prosa widersprüchlichster Art und erfand Verkörperungen für die Gegenstände seines Dichtens und Denkens, seine Heteronyme. (…) Im „Buch der Unruhe“ gibt sich nun Pessoa unter der durchsichtigen Maske des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares zu erkennen. (…)

Da das Buch keine Struktur und keine Dramaturgie hat, funktionieren die Eintragungen wie die Kacheln eines portugiesischen Innenhofs, aneinander gesetzt, zusammen gelesen ergeben sie den inneren Raum, die Psyche eines Außenseiters, eines verfeinerten Epikureers, der den Traum über die Wirklichkeit stellt und das Leben „als metaphysischen Irrtum der Materie“ sieht. (…)

Was die tiefe Melancholie des Buches für uns so spannend, so aufregend macht, ist die Denkweise von Pessoa. Sein Geist arbeitet in Paradoxen, Antinomien, Unvereinbarkeiten, die er für die Dauer eines einzigen, das Thema einkreisenden Satzes vereint. (…)

Sein Außenseiterdasein erklärt er sich immer wieder damit, dass die meisten mit ihrem Gefühl denken, während er mit seinem Denken fühlt. Deshalb gelinge ihm so selten die „Übereinstimmung“. Eine bezeichnende Notiz lautet:

„Zwischen mir und dem Leben ist eine dünne Glasscheibe. So deutlich ich das Leben auch erkenne und verstehe, berühren kann ich es nicht.“ (…)

Joachim Sartorius: Der fleischige Kuss des Hilfsbuchhalters
Zur Neuausgabe von Fernando Pessoas Hauptwerk „Das Buch der Unruhe“
Süddeutsche Zeitung, 124, Literatur, Samstag, 31. Mai 2003, S. 16